Sigi Hiss: Wein in Meter oder Sekunden?

Profil_webnwine_marcel_icon de Marcel MerzPremium_small, le 07. février 2012 16:22

Wo in Metern oder Sekunden gemessen wird, menschelt es seltener. Wo keine Millimeter oder Millisekunden entscheidend sind, kommen Emotionen ins Spiel, zwischenmenschliche. Gut oder schlecht?

Manchmal wünscht sich der eine oder andere Weingenießer vielleicht doch, Wein wäre etwas Theoretisches. Schmunzelnd sei hinzugefügt, die Weinmacher in bestimmten Momenten sicherlich auch. Etwas Abstraktes, was sich mit Formeln oder anhand von Plänen erklären ließe. An Dingen festzuhalten, die unumstößlich, nicht diskutier- oder widerlegbar sind. Bleibt die Stoppuhr im olympischen 100 Meter Finale der Herren, bei 9,4 Sekunden stehen, dann ist das ein Fakt. Technik, die lügt nicht. Technik, die ist eindeutig. Menschliches, wie dass die Krawatte des Schiedsrichters überhaupt nicht zum Hemd passt, fällt, da nicht ins Gewicht.

Gefällt der Bart des Winzers weniger, könnte das schon einen halben Punkt Abzug in der Haltungsnote geben. Unsympathischer Bart, unsympathische Weine. Und könnte sich bitte der gute Mann andere Klamotten anziehen und nicht direkt aus den Rebbergen kommend, die Weine präsentieren. Naja. Dann schauen wir bei seinen Weinen mal ganz genau hin. Die dreckigen Klamotten wird man im Wein schmecken, ganz sicher. 

Zurück zu den Sekunden. Selbst das Terroir, die Tartanbahn ist nicht weiter erwähnenswert. Und von wegen Hangneigung, hier ist alles topfeben und mit gummiartigem Rotliegendem abgedeckt. Welches Muttergestein? Gibt es sicherlich, irgendwo tief drunten. Selbst die Reaktionszeiten der Sprinter sind unter genauester Hightech-Kontrolle. Wer nur einen Wimpernschlag zu schnell aus den Blöcken schießt, wird direkt aussortiert. Hier ist spontan gleich Rausschmiss, wie bei den faulen Beeren auf dem Sortiertisch. Nichts mit spontaner Gärung, die wenigstens den Ansatz einer Idee einer Vorstellung vom heiß geliebten Terroir vermitteln könnte. Reinzuchthefe. Knallhart. Wer nach den 100 Metern die kleinste Zahl stehen hat, ist der Sieger. Ohne Wenn und Aber. Losgelöst von persönlichen Vorlieben, Bekanntschaften oder den schaffenden Händen, denen man die Arbeit ansieht.

Ach was wäre es schön, könnte man Wein auch in Sekunden ausdrücken. Keine Dogmen, die weder zu belegen noch zu widerlegen sind. Egal ob Sponti oder Schieferboden, ob Vollernter oder Pferdepflug. Die allwissenden Labeltrinker gäbe es nicht. Obwohl.

Ein und derselbe Wein: Der Weinkritiker hebt die 97er Tafel und der Weinliebhaber die 84er Kelle hoch. Da würde uns doch etwas fehlen. Dem oberschlauen Fachmann nämlich, mit diebischer Freude die Leviten zu lesen. Wenn der mir mal persönlich über den Weg läuft, na warte. Wie der solch einen Schwachsinn über meinen Lieblingswein verzapfen kann? Den Wein kennt man nun schon seit ewigen Zeiten und liebt ihn über alles. Er hätte eben damals beim gemütlichen Beisammensein auf dem Weingut dabei sein sollen. Dann, nur dann verstünde er die Weine auch. Und das Abendessen war so lecker, fast besser als die Weine.

Und dann ist sie da, die Möglichkeit dem Weinkritiker zu zeigen, wer hier was vom Rebensaft versteht. Er sitzt genau gegenüber. Meine Damen und Herren, ihre Wertungen bitte. Da, der Weinpapst zieht die 92. Ja was ein Zufall, meine Wertung, die ich gleich hochheben werde. Er hat doch Ahnung vom Wein. Was ein Glück der Kerl doch hat.

Und dann dieses ewige, nie versiegende Fass, das alle kennen: „Hat er Kork oder nicht? Wenn ja, wie viel? Und wenn soviel, warum hat, er soviel und nicht weniger? Klar hat er. Nein hat er nicht. Aus dem hinteren Eck der Gruppe tönt es scharf, keine Widerrede duldend: Der Wein ist so, das gehört zum Stil des Hauses.

Das gäbe es alles nicht mehr, würde Wein in Meter oder Sekunden gemessen. Mal ehrlich, wollen wir auf all diese wunderbaren kleinen Komödien verzichten?

 


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